Ich arbeite für die NETSYNO Software GmbH, ein Karlsruher IT-Unternehmen. In den letzten Wochen fand eine sogenannte Busbrücke von Karlsruhe an die polnisch-ukrainische Grenze statt. Die erste Tour wurde von Schaukelpferd e.V. organisiert, die zweite Tour haben u.a. wir vom NETSYNO Team mitorganisiert. In der Summe konnten über 3 Tonnen an Hilfsgütern übergeben werden und 35 Menschen eine sichere Überfahrt nach Deutschland ermöglicht werden. Ich bin vom 12. bis 14. März selbst mitgereist und möchte meine Eindrücke und Erfahrungen der Reise hier teilen.
Alles begann mit einer Nachricht von unserem Geschäftsführer Jonathan Denner im Firmenchat: “Guten Abend liebes Team, eine Arbeitswoche geht zu Ende, die erste in der wir Krieg in Europa haben. Es gibt einige Unternehmen die in Karlsruhe aktiv helfen. Da würde ich gerne NETSYNO mit einreihen. Eine erste pragmatisch Idee wäre: Wir mieten ein paar Stadtmobile und bringen Hilfsgüter an die Grenze. Auf dem Rückweg nehmen wir Flüchtende mit nach Karlsruhe.”
Die Idee nahm schnell an Fahrt auf: Kurz darauf ging unser Spendenaufruf online und wir begannen die Reise und Sachspenden zu planen und zu organisieren. Viele unserer Kolleg:innen haben sich eingebracht, ebenso wie Netzwerkpartner aber auch uns unbekannte Spender:innen. Und dann ging es auch schon los:
SAMSTAG, 12. MÄRZ 2022, 8 UHR
Nach letzten Reisevorbereitungen, Einkäufen und Absprachen am Freitagabend, startete unsere kurzfristige Reise zur polnisch-ukrainischen Grenze am Samstagvormittag von Stuttgart aus. Unser NETSYNO Team, bestehend aus Dina Dizdaric, Paulina Matuszak, Gianna Reich und Fabrice Beckett, machte sich mit einem 9-Sitzer von Stadtmobil auf den Weg. Weitere Partner von uns waren bereits unterwegs, so wie Bernd Röth und Jürgen Graf von Taxi Brand aus Ladenburg. Sie waren mit einem Reisebus des Karlsruher Reiseunternehmens Ikarus Reisen unterwegs, mit dem 40 Personen reisen können und der auf dem Hinweg um die 45 Kartons voll mit Hilfsgütern transportiert hat.
Unser Plan sah wie folgt aus: Unser Viererteam fährt gemeinsam zum Grenzort Medyka in Polen und auf dem Rückweg splitten wir uns auf. Dina und Paulina fahren mit dem 9-Sitzer und weiteren Mitreisenden zurück während Gianna und Fabrice den Bus begleiten und sich dort während der Fahrt um die Menschen kümmern.
Die Hinreise lief reibungslos: Wir haben uns schnell als Team zusammengefunden und kamen mit einigen Pausen nach rund 17 Stunden gegen 1:30 Uhr in Medyka an. Unser Ziel war eine Turnhalle, die als kurze Zwischenstation und Unterkunft für Geflüchtete diente. Betreut wird dieser Standort von dem polnischen Militär sowie vielen engagierten Helfer:innen. Am Eingang klärten wir mit einem Soldaten, dass wir Hilfsgüter bei uns haben und ob wir in der Unterkunft ein paar Stunden schlafen könnten. Man sagte uns, dass sie uns keines der Feldbetten anbieten könnten, da in der Nacht die Ankunft weiterer Geflüchteter erwartet wird. Das war aber kein Problem: Wir waren mit Schlafsäcken und Decken darauf vorbereitet überall zu schlafen. Kurzerhand wurde uns ein Schlafplatz auf dem Boden im oberen Teil der Turnhalle (Tribüne) zugewiesen, dort lagen Decken und Kissen für vier Personen bereit.
Bereits bei der Ankunft merkten wir, wie die Stimmung deutlich bedrückend wurde. Als unser Nachtlager aufgeschlagen war, saßen wir einfach gemeinsam dort und schauten runter auf die Turnhalle. Hier waren geschätzt rund 400 Feldbetten aufgestellt und um die 50-100 Personen untergebracht. Die ganze Situation erschien uns surreal und es hat Zeit gebraucht, um die Eindrücke und Stimmungen zu verarbeiten. Für einige Minuten haben wir einfach nur geschwiegen. In Anbetracht der Rückreise, die uns am nächsten Tag erwartet, versuchten wir etwas Schlaf zu finden. Immer wieder hörten wir verschiedene Geräusche: Gespräche, bellende und knurrende Haustiere, mal ein weinendes Baby, aber auch Menschen, die Albträume zu haben schienen. Dann war eine Sirene zu hören, aber von außen, nicht in der Halle selbst. Wir wussten nicht, was los war, aber da alle um uns herum ruhig blieben, dachten wir uns nichts weiter dabei.
SONNTAG, 13. MÄRZ 2022, 6:30 UHR
Die Nacht war kurz, wir haben vielleicht drei bis vier Stunden Schlaf bekommen. Bis zum Morgen sind weitere Geflüchtete in die Turnhalle gekommen, sodass die Halle fast voll war als wir wach wurden. Ein Mann lud uns kurzerhand ein, zusammen mit den Helfer:innen und Soldat:innen zu frühstücken. Er führte uns in einen Raum, in dem viel Trubel herrschte und wir hätten hier die Möglichkeit gehabt, etwas zu essen und einen Kaffee oder Tee zu trinken. Auch wenn wir sehr dankbar für das nette Angebot und die tolle Gastfreundschaft waren, entschieden wir uns, außerhalb etwas zu essen. Wir hatten ein schlechtes Gewissen, den Menschen vor Ort “etwas wegzunehmen” und wollten keine Last sein. Ob wir hier richtig entschieden haben, ist schwer zu sagen. Auf so einer Reise muss man manchmal situativ nach Bauchgefühl handeln.
Am nächsten Morgen klärte sich dann auch, warum wir in der Nacht eine Sirene gehört haben: Es war ein Fliegeralarm, da nicht weit von Medyka entfernt in der Ukraine ein Bombenangriff stattgefunden hat.
Gegen 8 Uhr begannen wir gemeinsam mit Bernd und Jürgen, den beiden Busfahrern, Personen zu suchen, die mit uns nach Deutschland reisen wollen. Bernd hatte schon im Vorfeld wie auch vor Ort Kontakt zu Helfern, die uns dabei unterstützt haben Mitreisende zu finden. Generell haben wir alle Personen, mit denen wir in Medyka Kontakt hatten, als sehr gut organisiert und zugleich sehr menschlich und freundlich erlebt.
Um etwa 9:30 Uhr ging die Reise für den Bus los: Bernd, Jürgen, Fabrice und Gianna konnten 20 Personen mitnehmen, vorwiegend Frauen und Kinder. Paulina und Dina sind mit dem 9-Sitzer zu einer weiteren Flüchtlingsaufnahmestelle gefahren und haben dort fünf weitere Personen (zwei Mütter und insgesamt drei Kinder) gefunden, die mitgereist sind. Die Organisation vor Ort war professionell und an den Menschen orientiert: Fahrer:innen konnten sich mit der Anzahl der freien Plätze und ihrem Zielort registrieren und erhielten ein Erkennungsbändchen. Helfer:innen vor Ort liefen durch die Hallen und riefen die Zielorte und Mitfahreranzahl aus. Als registrierte Fahrerinnen konnten wir über die Helfer:innen in kurzer Zeit Mitfahrende nach Süddeutschland finden. An der Registrierung trafen wir auf viele deutsche Privatpersonen, die, ähnlich wie wir, mit 9-Sitzern nach Polen gereist waren, um Schutzsuchende nach Deutschland zu bringen. Sowohl die polnischen Helfer:innen, als auch die Fahrer:innen begegneten sich freundlich und hilfsbereit. Trotz aller Sprachbarrieren verlief die Kommunikation mehr oder weniger problemlos zwischen allen Beteiligten. Der einzige Einsatz des Google Übersetzers durch einen Helfer war, um uns mitzuteilen, dass er seit über 24h nicht geschlafen hat.
Die Rückreise im Bus verlief reibungslos: Wir waren rund 17 Stunden unterwegs. Bernd und Jürgen haben sich regelmäßig beim Fahren abgewechselt und haben alles sehr ruhig und professionell organisiert. Wir hatten genug Proviant für alle dabei und die beiden Busfahrer haben sich sogar um Kinderfilme gekümmert, die während der Fahrt auf Bildschirmen gezeigt wurden, damit die Kinder ein bisschen abgelenkt und unterhalten wurden. Fabrice und Gianna kümmerten sich währenddessen um die Fragen und Bedürfnisse der Mitreisenden: Neben dem Verteilen von Essen, Trinken, Spielzeug und Medikamenten ging es vor allem auch darum, die Fragen der Menschen zu klären: Wo reisen wir hin? Wie kommen einzelne Personen an ihren Zielort? Gibt es hier Internet? Wo kann man Geld wechseln? Auf viele Fragen waren wir gar nicht vorbereitet, aber mit einem Smartphone und Internet lässt sich (fast) alles klären. Da kaum jemand Englisch sprach, haben wir uns hier mit Google Übersetzer geholfen: Wir tippten ein, was wir sagen wollten und ließen es direkt in kyrillischer Schrift anzeigen. Das hat gut funktioniert.
Dina und Paulina waren während dessen ebenfalls auf dem Rückweg nach Deutschland. Die beiden mitfahrenden Mütter hatten Verwandte in Deutschland, zu denen der Kontakt per WhatsApp hergestellt wurde. Nach Absprache mit den deutschsprachigen Verwandten wurden die Treffpunkte Frankfurt und Karlsruhe vereinbart, wo die beiden Familien abgeholt werden sollten. Die gemeinsame Reise mit den beiden Müttern und ihren Kindern verlief ebenfalls reibungslos – sie schliefen die meiste Zeit. Nach 15 Stunden Autofahrt und großer Erschöpfung durch die Hinfahrt, sowie die ausgesprochen kurze Nacht in der Turnhalle in Medyka, war es eine wahre Freude und ein erfolgreiches Ende der Reise die zwei Mütter mitsamt Kindern ihren Verwandten zu übergeben. Zum Abschied und Dank haben wir ein selbstgemaltes Bild von einer der jüngeren Mitfahrerinnen erhalten, welches sie in ihrer ersten Nacht im Bunker gemalt hatte.
MONTAG, 14. MÄRZ 2022, 1:00 UHR
Der Reisebus kam in der Nacht zu Montag in Karlsruhe an. Dort haben wir die Familien der Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge übergeben. Da einige der Familien weiterreisen wollten, um andere Verwandte in Deutschland und den Niederlanden zu treffen, sind Fabrice und Gianna am Montagvormittag erneut zur Landeserstaufnahmeeinrichtung gefahren, zusammen mit unserem NETSYNO-Kollegen Dino Dizdaric. Er hatte sich spontan bereit erklärt, 6 Personen nach Stuttgart zu fahren. Gesagt, getan: Während Dino mit dem Auto auf dem Weg nach Stuttgart war, begleiteten Fabrice und Gianna eine Mutter mit ihren beiden Kindern per Zug nach Duisburg. Dort wurden sie von einem Verwandten in Empfang genommen, der sie dann weiter mit nach Den Haag nahm.
WAS NEHMEN WIR VON DIESER REISE MIT?
Das Fazit der Reise: Alle, die bei dieser Reise dabei waren, sind wohlauf und gut nach Hause genommen. In der Summe konnten über 3 Tonnen an Hilfsgütern übergeben werden und 35 Menschen eine sichere Überfahrt nach Deutschland ermöglicht werden. Es war uns sogar möglich, einige der Menschen an ihren Wunschzielort zu bringen.
Natürlich nimmt jeder von uns auch sehr persönliche Eindrücke mit: Wir haben auf dieser Reise schöne wie auch traurige Erfahrungen gleichermaßen gemacht. Wir haben einen Eindruck bekommen, was es bedeutet auf Grund von Krieg aus seinem Heimatland flüchten zu müssen. Wir haben die Ängste, Sorgen und Unsicherheiten der Menschen mitbekommen. Und genau so haben wir zusammen lachen können, haben uns gegenseitig geholfen und ein paar neue Bekanntschaften geknüpft.
Fest steht: Wir machen weiter. Die Busbrücke wird so oft fahren wie nötig und so oft wie möglich. Neuste Informationen und Spendenaufrufe finden sich auf dem NETSYNO Blog in der Kategorie „Busbrücke“.
PERSÖNLICHER NACHTRAG
Wir haben auf unserer Reise auch Fotos gemacht (unter anderem in der Turnhalle), bei denen wir unsicher waren, ob wir sie öffentlich zeigen wollen. Nach einer Abstimmung im Team kamen wir zu der Entscheidung, keine Aufnahmen aus der Turnhalle oder von den Familien zu zeigen. Und zwar aus Respekt vor den Menschen und ihrer Situation. Wir wollen das Thema mit der nötigen Sensibilität transportieren und wünschen uns sehr, dass unser Reisebericht dazu beiträgt, weitere Einsätze der Busbrücke möglich zu machen. Auch freuen wir uns über Anfragen (busbruecke@netsyno.com) von anderen Unternehmen und aus anderen Städten, die das Konzept bei sich lokal umsetzen wollen. Wir beraten und vernetzen dazu gerne.
Der Artikel ist zuerst dem Blog der NETSYNO Software GmbH erschienen.